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2020|Retrospektive

Ein Gespräch mit der Auswahlkommission der Retrospektive über Themen und Stars sowie Technik und Stil in den Filmen des Hollywood-Regisseurs King Vidor (1894–1982), dem die filmhistorische Rückschau der 70. Berlinale gewidmet ist.

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Foto: Kenneth Alexander, Quelle: British Film Institute

King Vidor bei den Dreharbeiten zu Street Scene, New York 1931

Bei King Vidor imponiert allein schon der große Umfang seines Werks. Wie viele Filme hat er gedreht und in welcher Zeitspanne entstanden sie?

Zwischen 1919 und 1959 drehte King Vidor 54 Spielfilme. Nur sechs von ihnen sind nicht überliefert. Wenn man seine dokumentarischen Arbeiten und kurzen Zweiakter mitzählt, die ab 1913 entstanden, kommt man auf ungefähr 70 Werke. Seine Laufbahn als narrativer Filmemacher umfasst damit 46 Jahre. Nimmt man auch die beiden späten essayistischen Filme hinzu, die er 1964 und 1980 realisierte, kommt man auf 67 Jahre aktiver Filmarbeit. In dieser Zeit gehörte King Vidor zu jenen Regisseuren, die stets vom Thema her dachten, die den Stoff nicht vorab festlegten, sondern vom Stoff ausgehend einen Stil definierten. Hinzu kommt bei ihm eine große Experimentierfreude: Er ergründete die unterschiedlichsten Genres, manche reizte er bis an ihre Grenzen aus und sprengte diese manchmal auch. King Vidor war ein Regisseur von großer Vielfalt, und dementsprechend viel gibt es in seinem Werk noch zu entdecken.

Welche Voraussetzungen brachte Vidor mit, um 1919 in Hollywood seinen ersten Spielfilm drehen zu können?

King Vidor stammte ursprünglich aus Texas. Er kam schon als sehr junger Mensch zum Kino. Mit 16 Jahren verließ er die Schule und arbeitete in seiner Heimatstadt Galveston in Texas im örtlichen Kino als Kartenverkäufer und Filmvorführer. Bald darauf fing er an, kurze lokale Aktualitätenfilme zu drehen, an denen er sogar etwas verdiente. Bereits 1915 ließ er sich mit seiner jungen Ehefrau Florence in Hollywood nieder; sie wurde dort eine erfolgreiche Schauspielerin, er begann als Drehbuchautor. Dann konnte er für Boy City Film eine Reihe pädagogischer Kurzfilme inszenieren, von denen einer in der Retrospektive zu sehen sein wird: Bud’s Recruit von 1918, der älteste seiner erhaltenen Filme. Danach gestattete man ihm den Übergang zur Spielfilmregie.

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Quelle: Deutsche Kinemathek, © 1949 Warner Bros. All Rights Reserved.

David Brian und Bette Davis in Beyond the Forest

1920 hat sich Vidor mit einem eigenen kleinen Studio als Produzent selbständig gemacht. Er hat aus diesem Anlass ein Manifest verfasst. Was stand darin? Und hat er sich immer daran gehalten?

Dieses Manifest ist überschrieben mit „A Creed and a Pledge“, auf Deutsch: „Ein Glaubensbekenntnis und ein Gelöbnis“. Es umfasst sechs Punkte und ist recht pathetisch formuliert, im Grunde eine Selbstverpflichtung, in der es unter anderem heißt: Er, Vidor, glaube an Filme, die der Menschheit eine Botschaft vermittelten und die ihr dabei helfen würden, „sich selbst von den Fesseln der Angst zu befreien“. Ein ganz idealistisches Manifest, in dem er außerdem ankündigt, dass er „Bosheit“ und „Unheil“ in seinen Filmen nie dulden oder verherrlichen werde. Vidor distanzierte sich später von diesem Text und bezeichnete ihn sogar als „stupid“, also dumm, er sei eine reine Werbeaktion gewesen. In seinen späten Filmen gibt es durchaus „boshafte“ Charaktere, wobei er aber das rigorose Verhalten der weiblichen Hauptfiguren in Filmen wie Beyond the Forest (1949) oder Ruby Gentry (1952) nicht verurteilt. Vielmehr versucht er, ihre Motive zu ergründen.

Auf einen Teil zumindest seines frühen Werks hat dieses Manifest doch aber wohl Einfluss genommen?

Dahinter steckte bei Vidor auch eine bestimmte Glaubensüberzeugung. Er war ja Anhänger der Christian Science, allerdings kein tiefgläubiger. Der Text ist ein wenig davon bestimmt. Wer so auftritt, möchte eine Botschaft loswerden, und unterschwellig ist Vidor in diesem Sinne immer wieder auch ein Autorenfilmer. Für einige seiner Filme schrieb er das Drehbuch, für andere die grundlegende Story. Andererseits war Vidor in einer Zeit Regisseur, in der das Konzept vom Autorenfilm noch gar nicht existierte. Er war als Regisseur vor allem ein Profi, und als solcher sah er sich auch selbst. Filmemachen war für ihn eine Obsession, für die man alles opfern musste, zur Not das eigene Eheglück. Daraus spricht eine Radikalität des Filmemachers, die manchmal auch etwas Erschreckendes hat.

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Quelle: Sammlung Cinémathèque suisse. Alle Rechte vorbehalten.

Marie Windsor, Louise Lorimer und Shirley Yamaguchi in Japanese War Bride

Er war aber mehr als ein professioneller Erfüllungsgehilfe fremder Auftraggeber?

Für Vidors Autorenstatus sprechen auf jeden Fall die Unabhängigkeit und Leidenschaft, mit denen er seine Filme realisierte. Er musste mehrere Jahre darum kämpfen,Hallelujah 1930 mit ausschließlich Schwarzen Darsteller*innen drehen zu können. Es war zu dieser Zeit höchst ungewöhnlich für ein großes Hollywood-Studio wie MGM, sich darauf einzulassen. Auch hat Vidor mehrmals eigenes Geld in Filmprojekte investiert, um sie realisieren zu können – zum Beispiel bei Our Daily Bread (1934). Und auch wenn viele Filmstoffe nicht von ihm selbst stammten, so hat er doch gemeinsam mit seiner dritten Ehefrau Elizabeth Hill über einen langen Zeitraum hinweg als Drehbuchautor gearbeitet. Es gibt auch eine ganze Reihe von Themen, die immer wieder in seinen Filmen auftauchen und etwas von dem widerspiegeln, was ihn im Leben beschäftigte – Klassenfragen ebenso wie die Rassenfrage in den USA, die er auf humanistische Weise in seine Filme einbringt. Und Japanese War Bride (1952) ist explizit ein Film gegen Rassismus. Außerdem gab es wohl keinen anderen Regisseur innerhalb des Studiosystems dieser Zeit, der so oft und so detailliert Arbeitsvorgänge zeigte. Sehr früh beschäftigte Vidor sich auch mit Frauenfragen, so in dem Stummfilm The Real Adventure (1922), in dem eine junge Ehefrau Anerkennung und Erfolg in der Berufstätigkeit sucht. Und um nuanciert dargestellte Ehekonflikte von Frauen aus drei nachfolgenden Generationen geht es in dem Episodenfilm Wine of Youth (1924).

Weltruhm hat King Vidor mit zwei Filmen zu zeitgeschichtlichen Themen erlangt, mit dem Weltkriegsfilm The Big Parade (1925) und mit The Crowd (1928), einem Film über die moderne Massengesellschaft. Was macht diese Filme zu Klassikern?

The Big Parade (1925) war der erste Film aus Amerika, der frei ist von einer „Anti-Hunnen-Propaganda“, die bis dahin in der amerikanischen Politik und auch im US-Kino eine große Rolle gespielt hatte. Vielmehr entwickelte Vidor in seinem Film ein Muster, das für viele kriegskritische Filme zentral wurde: die Gruppe in Gefahr. Dabei geht es um eine Handvoll Soldaten, die den Krieg ertragen müssen – manchmal überlebt einer von ihnen, manchmal auch keiner, wie später in Westfront 1918 (R: G. W. Pabst, Deutschland 1930) oder All Quiet on the Western Front (R: Lewis Milestone, USA 1930). The Big Parade hat mit dieser Dramaturgie Schule gemacht und war außerordentlich erfolgreich.

The Crowd (1928) ist nicht nur ein Film über die Massengesellschaft, sondern auch über die Individuen, die sich in ihr bewegen. Auch dies ist wieder eine Ehegeschichte, in der sehr genau beobachtet wird und die die unterschiedliche gesellschaftliche Wertschätzung von Mann und Frau aus Vidorscher Perspektive wiedergibt: Der Held ist eigentlich ein Träumer und Phantast, während seine Frau die Verantwortung für die Familie übernimmt. The Crowd ist ein Film, der die „modernen Zeiten“ durchbuchstabiert hat. Vidor sagte später über ihn: „Das ist der Film, bei dem ich am meisten bei mir war.“

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© 1928 Turner Entertainment Co. All Rights Reserved.

William Haines und Marion Davies in Show People

Etwas von der spezifischen Atmosphäre des frühen Hollywoods ist wohl in Show People (1928) zu verspüren, dem Eröffnungsfilm der Retrospektive?

Marion Davies verkörpert hier eine Schauspielerin, die im „Kino der Attraktionen“ groß geworden ist und dort in der Gemeinschaft mit anderen Filme gewissermaßen „am Fließband“ herstellt. Dann aber wird sie zum Star und arbeitet an einer Karriere, die von der kleinen Manufaktur wegführt zu einem großen Studio, wo mit großen Budgets große Geschichten mit großen Stars erzählt werden. Das ist auch eine Art der Selbstreflexion des Regisseurs, vermittelt wird sie aber über die Geschichte des weiblichen Stars – ganz wunderbar gespielt von Marion Davies. Seit Orson Welles in Citizen Kane (1941) mit seinem ziemlich unkaschierten Porträt von William Randolph Hearst auch das Bildnis seiner gänzlich untalentierten Geliebten schuf, legte sich über die Karriere von Marion Davies, die in der Tat die Gefährtin von Hearst war, die Vorstellung, auch sie sei keine wahre Künstlerin gewesen, sondern bloß Protegé des Milliardärs. Ganz zu Unrecht! Sie war eine ganz großartige Komödiantin. Ohne sie hätte Vidor diesen Film gewiss nicht machen können. Man muss für so etwas über eine gewisse Selbstironie verfügen, und die hatte sie. King Vidor ist überhaupt ein großer Schauspiel-Regisseur. Man findet in seinen Filmen immer wieder schauspielerische Leistungen, die absolut verblüffend sind. Oft sind es die Frauengestalten – das gilt sowohl für Lillian Gish in La Bohème (1926), für die ganz fantastische Anna Sten in The Wedding Night (1935), Barbara Stanwyck in Stella Dallas (1937), die überragende Hedy Lamarr in Comrade X (1940) und H. M. Pulham, Esq. (1941), für Bette Davis in Beyond the Forest (1949) oder auch für Jennifer Jones in Ruby Gentry (1952).

Was weiß man über seinen Inszenierungsstil?

Es existieren recht viele Arbeitsfotos von den Film-Sets, darunter eine Fülle von Aufnahmen, auf denen man Vidor in ganz alltäglicher Kleidung sieht. Er verschwindet tendenziell neben der Aktion, die er doch leitet. Die Diskretion, mit der er sich dort präsentiert, wirkt außerordentlich sympathisch. Mit hochgekrempelten Hemdsärmeln steht er neben Stars in voller Maske und prachtvollen Kostümen. Er steht daneben und beeindruckt durch seine ganz unspektakuläre Gestik, die aber ganz intensiv die Darsteller*innen erreicht. Er war das genaue Gegenteil eines dominant auftretenden Dompteurs, der sich immer auch selbst inszeniert.

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Quelle: Deutsche Kinemathek, © 1929 Turner Entertainment Co. All Rights Reserved.

Fanny Belle DeKnight und Harry Gray in Hallelujah

In Vidors langer Laufbahn hat das Kino nicht zuletzt auch eine rasante technische Entwicklung genommen. Wie spiegelt sich das in seinen Filmen und auf den Berlinale-Leinwänden wider?

King Vidor reagierte auf technische Neuerungen immer mit großem Interesse. Bereits im Stummfilm hat er mit Musik und einem Metronom gearbeitet und sich deren Rhythmik für die Inszenierung zunutze gemacht. Sein Tonfilmdebüt Hallelujah von 1930 ist nicht nur wegen seines Musik-Einsatzes bemerkenswert, sondern auch wegen der authentischen Sprechweise der Schwarzen Darsteller*innen. Und auch in seinem Großstadtfilm Street Scene, ein Jahr später entstanden, ließ er unter den Bewohner*innen eins Mietshauses, die unterschiedliche Migrationshintergründe haben, die verschiedensten Dialekte und Sprachfärbungen zu. Er arbeitete also mit einem sehr realistischen Ton, der eine Atmosphäre erschafft und weit mehr Informationen transportiert, als nur die gesprochenen Worte. Das verleiht den handelnden Personen eine zusätzliche Tiefe. Vidors Western Billy the Kid entstand schon 1930 im Breitwandformat und kam mit 35mm- und 70mm-Kopien ins Kino. Zum Farbfilm ist King Vidor relativ spät gekommen, erst 1940, mit Northwest Passage. In dieser Hinsicht war er also kein Pionier, hat dann aber in seinen sechs Technicolor-Filmen offensiv, manchmal auch recht exzessiv mit der Farbe gearbeitet und ihr eine große Bedeutung eingeräumt – durch den Einsatz natürlicher Farben für die spektakulären Landschaftsaufnahmen in Northwest Passage, eher gedeckter Farbtöne in der Industrie-Chronik An American Romance (1944), sehr greller Farben in dem hitzigen Melodram Duel in the Sun (1947), bis hin zu den in Farben schwelgenden Kostümen im Spätwerk Solomon and Sheba (1959), die durchaus Camp-Qualitäten besitzen.

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Image courtesy of Park Circus/MGM

Gina Lollobrigida und Yul Brynner in Solomon and Sheba

Dieser letzte Film King Vidors gilt als missglückt. Was ist da geschehen?

Wenn man von der Produktionsgeschichte nichts wüsste, könnte man sagen: Seltsam, die beiden Hauptdarsteller*innen – Yul Brunner und Gina Lollobrigida – sind nicht auf der Höhe ihres Könnens. Warum ist das so? Für die männliche Hauptrolle war ursprünglich Tyrone Power vorgesehen. Und dies war vermutlich auch der Grund dafür, dass King Vidor sich überhaupt für Solomon and Sheba (1959) entschied und gegen Ben Hur, der ihm angetragen worden war. Solomon steckt als Mann in einer Zwickmühle, die sowohl King Vidor als auch Tyrone Power, der sich kurz vor Beginn der Dreharbeiten von seiner Ehefrau getrennt hatte, vertraut war. Es geht im Film um die Frage: Soll man einer sinnlichen Attraktion widerstehen, der man eigentlich nicht widerstehen möchte, wenn man jemand anderem – im Falle Solomons dem Gott Jehova – seine Treue geschworen hat? Für Vidor war wichtig, dass Tyrone Power das spielen konnte, weil es mit seiner Lebenserfahrung zu tun hatte … Und dann stirbt Tyrone Power plötzlich während der Dreharbeiten und wird ersetzt durch Yul Brynner. Und Yul Brynner interessiert die in der Rolle angelegte Ambivalenz ganz und gar nicht. Was er spielen will, ist „the king“ – und das hat er dann auch getan – in jeder Szene des Films ist Yul Brynner der König. Damit wird aber zugleich die Balance dieses Films auf geradezu tragische Weise verändert. Dafür besitzt er andere Qualitäten. Und die kommen zum Tragen, sobald Yul Brynner König sein darf und in die Schlacht zieht, oder sobald Gina Lollobrigida nicht mit ihm wetteifern muss. Dann funktioniert der Film wieder – bis hin zu dem großartigen Moment, als Sheba sich für Solomon aufopfern will.

Aber danach hatte sich das Filmemachen für King Vidor erledigt?

Er arbeitete noch an mehreren größeren Projekten mit und verfasste sogar ein Drehbuch zum Film A Man Called Cervantes. Doch als dann der Produzent ohne Absprache das Drehbuch veränderte, gab King Vidor den Film auf. Zu dieser Zeit, Mitte der 1960er-Jahre sprach er davon, dass jetzt ein anderes Filmemachen möglich sei. Er sah das Aufkommen des Autorenfilms, er war fasziniert von Fellinis . Er wusste aber auch: Er gehörte nicht zu der Generation, die diese Filme machte. Dafür aber vermittelte er seine Erfahrungen und seine Anliegen auf vielfältige andere Weise: Er wurde ein sehr gesuchter Interview-Partner und unterrichtete an Filmschulen – und begegnete dort so aufmerksamen Schülern wie Martin Scorsese, der später zu einem der jungen Regisseure wurde, mit denen er befreundet war. Martin Scorsese hat in der Tat immer eine sehr nachhaltige Beziehung zum Werk von King Vidor gepflegt. Er bewundert ihn heute noch. Davon zeugt nicht zuletzt sein Textbeitrag in der Buchpublikation der Retrospektive.

Zur Nachhaltigkeit der Retrospektive gehört die Übernahme von Filmen durch andere Spielstätten. Wo wird man in Zukunft vom filmhistorischen Engagement der Berlinale profitieren können?

Die Retrospektive wird nachgespielt vom Filmmuseum München und danach – etwas weniger umfangreich – im Filmhaus Nürnberg. Sie wird dann übernommen vom Filmpodium in Zürich, der Cinémathèque suisse in Lausanne sowie von der Film Society im Lincoln Center, New York.

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Author: Moshe Kshlerin

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